zum Content

Auszeichnung für zivilgesellschaftliches Engagement

Goldenes Lot 2016 geht an Amelie Deuflhard

Amelie Deuflhard, Theaterproduzentin, Intendantin und künstlerische Leiterin von Kampnagel Hamburg, ist am 30. September in Köln für ihr herausragendes zivilgesellschaftliches und künstlerisches Engagement vom Verband Deutscher Vermessungsingenieure (VDV) mit dem GOLDENEN LOT ausgezeichnet worden. „Wir möchten damit insbesondere das Aufgreifen und konkrete Umsetzen aktueller gesellschaftlicher Fragestellungen in einen kulturellen Dialog würdigen“, so Wilfried Grunau, Präsident des Ingenieurverbandes. „Amelie Deuflhard hat mit den Mitteln der Kunst auf eines der drängendsten gesellschaftliche Probleme Europas aufmerksam gemacht und den Menschen am Beispiel des Aktionsraumes für Flüchtlinge (Ecofavela Lampedusa Nord) einen grenzenlosen Spiegel vorgehalten.“

Amelie Deuflhard leitet seit 2007 die Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg. Kampnagel ist eine ehemalige, 1865 gegründete Maschinenfabrik in Hamburg-Winterhude, die seit 1982 als Veranstaltungsort für zeitgenössische darstellende Kunst genutzt wird. Im Dezember 2014 wurde auf Kampnagel ein temporärer Aktionsraum für Flüchtlinge aus der Hamburger Lampedusa Gruppe eröffnet und bis Mai 2015 bespielt. Das Projekt entstand auf Initiative des Hamburger Künstlerkollektivs Baltic Raw. Statt diesen nach der Bespielung wie geplant zu demontieren, schlugen sie vor, den Raum winterfest und für wohnungslose Flüchtlinge der Lampedusa Gruppe als künstlerischen und sozialen Ort nutzbar zu machen. Mit dem ökologischen Ansatz des Baus zeigten sie gleichzeitig neue Möglichkeiten nachhaltiger und effizienter Bauweise auf.

Rede des VDV-Präsidenten Wilfried Grunau

Die Tatsache, dass unsere Zivilisation problematisch geworden ist, dass alle ihre Prinzipien ohne Ausnahme fraglich erscheinen, ist nicht unbedingt traurig oder bedauerlich und durchaus kein Zeichen der Agonie, sondern im Gegenteil ein Symptom dafür, dass eine neue Form der Zivilisation unter uns aufkeimt, dass also im Ungewitter augenscheinlicher Katastrophen – Katastrophen greifen in die Geschichte nie so tief ein, wie die Zeitgenossen glauben –, dass also im Angesicht dieser scheinbaren Katastrophen unter Kummer, Schmerzen und Not eine neue Gestalt des menschlichen Daseins im Entstehen begriffen ist.

Ich habe dieses Zitat des spanischen Kulturphilosophen José Ortega y Gasset, des so genannten Dekans von Europa, gewählt, weil es meines Erachtens eine Situation beschreibt, die (im erweiterten Sinne) auch von unserem heutigen Ehrengast thematisiert worden ist: Meine Damen und Herren, begrüßen sie mit mir die Preisträgerin des GOLDENEN LOTES 2016, Amelie Deuflhard!

Im Diskurs über aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen sollten auch wir Geodäten Stellung beziehen. Aber wie werden wir diesem Anspruch gerecht? Dies kann hier in aller Kürze sicherlich nicht vollständig und umfassend beantwortet werden. Gleichwohl habe ich die Begriffe „gesellschaftliche Fragestellungen“ und „Geodäten“ schon sehr bewusst gewählt und möchte als verbindendes Element eine weitere, vom Wortsinn her aber eher trennende, Begrifflichkeit hinzufügen: „Grenzen“.

Welche Funktion haben Grenzen normalerweise? Für uns Geodäten wohl lediglich eine Fachfrage mit der pragmatischen Antwort: Grenzen strukturieren. Sie geben beispielsweise der politischen Landkarte eine Struktur. Sie trennen - je nach Region, je nach politischer Situation mehr oder weniger grob - zwei Völker, zwei Länder, zwei Sprachen, oft auch ein Volk, ein Land, bisweilen sogar ein Dorf oder ein Haus. Manchmal ist das absurd, manchmal erschreckend, oft tragisch, manchmal einfach sicherer - fast immer aber ist es auch faszinierend.

Vielleicht liegt das daran, dass Grenzen Anfang und Ende zugleich darstellen. Manche politische Grenzen waren bis vor kurzem im Verschwinden begriffen, einige hingegen werden in neuerer Zeit, zumindest temporär, wieder sichtbar und wiederhergestellt.

Aber selbst wenn Staatsgrenzen durchlässig werden und ihre politische Funktion langsam verlieren, wird etwas lange bleiben: Grenzen sind, auch wenn sie nicht immer die Trennschärfe politischer Demarkationslinien besitzen, aus historischen Gründen meist mehrdimensional, d.h. beispielsweise, dass sie neben Staaten auch Sprach- oder Religionsräume trennen. Manchmal wirken sie dadurch stabilisierend – manchmal aber eben auch nicht.

Grenzen sollen Konflikte verhindern; gleichzeitig sind sie aber auch immer wieder Konfliktorte, weil sie Anknüpfungspunkte sind: für Überschreitungen und Auseinandersetzungen, aber auch für Neuanfänge.

Insgesamt erscheint mir die Rede vom Verschwinden der Grenzen, gerade mit Blick auf die momentane politische Weltlage, in vielerlei Hinsicht manchmal doch zweifelhaft. Denn neben der wechselseitigen Bedingtheit von Grenzöffnung und -schließung tragen Grenzen auch grundsätzlich die Ambivalenz von Eingrenzung einerseits und Ab- beziehungsweise Ausgrenzung andererseits in sich: Eingrenzung rekurriert auf das Eigene, auf „Wir hier“, auf Zugehörigkeitsgefühl, Vertraut- und Geborgenheit. Abgrenzung hingegen verweist auf das Fremde, auf das Andere.

Indem wir Geodäten heute Abend mit Amelie Deuflhard die Theaterproduzentin, Intendantin und künstlerische Leiterin von Kampnagel Hamburg mit dem GOLDENEN LOT auszeichnen, möchten wir einen Schwerpunkt setzen und eine Orientierung liefern und damit eine Neu- und Andersbeschreibung einer Situation anbieten, die nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa aktuell von vielen Menschen als sehr kritisch und bedrängend empfunden wird.

Der VDV würdigt mit der diesjährigen Auszeichnung insbesondere das sehr frühe Aufgreifen und konkrete Umsetzen aktueller gesellschaftlicher Fragestellungen in einen künstlerischen, in einen kulturellen Dialog.

Selbstreflexion, Sprachreflexion und die Überprüfung der eigenen Werte: All das kann die Kunst leisten. Und sie kann in diesem Kontext durchaus auch analytisch werden, quasi die Zeit anhalten und damit grenzüberschreitende Räume eröffnen.

Amelie Deuflhard hat es als Intendantin von Kampnagel ermöglicht, mit den Mitteln der Kunst auf eines der drängendsten gesellschaftlichen Probleme Europas aufmerksam zu machen und den Menschen am Beispiel des Aktionsraumes für Flüchtlinge (Ecofavela Lampedusa Nord) einen grenzenlosen Spiegel vorzuhalten.

In diesem Projekt geht es um Kulturverständnis, es geht um Dialog und um ein soziales Miteinander. Natürlich (leider?) hat dieser temporäre Aktionsraum für Flüchtlinge, diese „soziale Plastik“, zu keiner politischen Lösung geführt, gleichwohl haben die Künstler, hat Kampnagel zumindest versucht, an den bestehenden Verhältnissen zu rütteln und es dürfte ihnen durchaus gelungen sein, dass der eine oder andere ins Nachdenken gekommen ist.

Es ist tatsächlich nicht leicht, den Überblick zu behalten und die oberflächlichen von den tieferen Umwälzungen zu unterscheiden. Über manche plötzlichen Ereignisse geht der große Strom der Kontinuität hinweg, während bedeutsame Umbrüche sich häufig in vielen kleinen Schritten vollziehen, deren richtungsändernde Wirkung erst mit Abstand erkennbar wird. Das macht einen Teil unserer derzeitigen Unsicherheit aus.

Nicht wenige Menschen in unserer Gesellschaft zeigen daher auch eine gewisse Positionierungsangst, andere wiederum neigen zu Extrempositionen; gleichfalls ist so manches Mal auch eine fundamentale Hilflosigkeit zu verzeichnen. Denn die Herausforderung, der wir gegenüberstehen, ist derartig komplex, dass derjenige, der jetzt meint Patentrezepte anzubieten, das Problem möglicherweise noch gar nicht richtig erfasst und beschrieben hat.

Die Krise Europas hängt – natürlich – auch mit dem Ohnmachtsgefühl zusammen, das viele Menschen beschleicht und dessen Auswirkungen wir beispielsweise an den Wahlergebnissen ablesen können.

Aber: Panik ist nie ein guter Ratgeber. Wir können daher nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, sondern müssen den Verlust der Sicherheit in einer unüberschaubaren und entgrenzten Welt als große gemeinsame Aufgabe für Gesellschaft und Demokratie annehmen.

Europa hat eine lange Tradition der Humanität, der Menschlichkeit, der Fähigkeit zum Dialog und zum Miteinander. Es mag sein, dass diese Werte nicht mehr allzu präsent sind. Wir müssen also uns daran erinnern, was es heißt, Europäer zu sein und daran, dass die Europäische Union eine politische und gesellschaftliche Wertegemeinschaft ist, die sich durch Offenheit und Vielfalt ausgezeichnet hat. Die Auszeichnung der EU mit dem Friedensnobelpreis im Jahr 2012 unterstreicht dies sehr deutlich.

Ein Europäer, der heute glaubt, er kann seine eigene Kultur abschotten, der ist an sich schon gar keiner. Wir stehen vor der grundsätzlichen Frage, wer wir überhaupt sein wollen, ob wir ein Land sein wollen, das sich abschottet, oder eine Gesellschaft, die sich öffnet und ihre vielfach propagierte Offenheit auch tatsächlich lebt. Gefragt ist ein neuer europäischer Humanismus.

Im Sinne von Kant und seiner Idee des guten Willens und im Verständnis von Hannah Arendts Pluralitätsgedanken bin ich der festen Überzeugung, dass man die Zukunft gestalten und besser machen kann als die Gegenwart.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe den Abend mit einem Zitat von Ortega y Gasset begonnen und möchte auch mit einem Zitat von ihm schließen. Gesagt hat er das, wie übrigens das Eingangszitat auch, in seinem Vortrag „Gibt es ein europäisches Kulturbewusstsein?“, gehalten am 29.09.1953, also fast auf den Tag genau vor 63 Jahren, in München anlässlich einer Tagung des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie:

Es gehört eben zur europäischen Kultur als ihr vielleicht charakteristischster Zug, dass sie periodisch eine Krise durchmacht. Gerade das bedeutet aber, dass sie nicht, wie andere große geschichtliche Kulturen, eine verschlossene, auf immer kristallisierte Kultur ist. Es wäre daher ein Irrtum, die europäische Kultur nach bestimmten Merkmalen zu definieren. Ihr Ruhm und ihre Kraft bestehen darin, dass sie stets bereit ist, über das, was sie war, hinauszugreifen, immer über sich selbst hinauszuwachsen.

Die europäische Kultur ist eine immer fortdauernde Schöpfung. Sie ist keine Herberge, sondern ein Weg, der immer zum Gehen nötigt. 

Cervantes, der so vieles erlebt hat, spricht im Alter die mahnenden Worte: Der Weg ist besser als die Herberge.

Und vor diesem Hintergrund reiht sich Amelie Deuflhard in ganz besonderer Weise in die Reihe der bisherigen Preisträger ein.

Herzlichen Glückwunsch zu dieser Auszeichnung!